Wilhelm Raabe

Pfisters Mühle

 

Einen seit dem 29. Dezember 1881 geführten Abwasserprozess der Mühlenbesitzer Müller und Lüderitz aus Bienrode und Wenden (Braunschweig) gegen die Rautheimer Zuckerfabrik hat der Schriftsteller Wilhelm Raabe (1831-1910) als Rahmenhandlung für seine Romanerzählung Pfisters Mühle – Ein Sommerferienheft verwendet, die 1884 zunächst in der Familienzeitschrift „Die Grenzboten“ in Fortsetzungen erschien. Zur Zeit der frühen Industrialisierung hat Raabe als ein bedeutender Vertreter des deutschen Realismus einen Schlüsselroman über einen klassischen und großen Abwasserprozess geschrieben, als „ein klassisches Beispiel, daß auf dem Prozeßwege die Reinhaltung eines Gewässers nicht erreicht werden kann.“ (L. Popp 1959) Nicht nur Literatur-, sondern auch Naturwissenschaftler haben sich deshalb immer wieder mit dieser Erzählung beschäftigt.

Der in die Großstadt als Gymnasiallehrer abgewanderte Müllerssohn Eberhard Pfister verlebt zusammen mit seiner jungen Frau vier Wochen Sommerferien in der bereits verkauften Mühle seines Vaters. Vom Ich-Erzähler werden anhand von acht Ferientagen und einem Tag in Berlin die Erinnerungen an die Kindheit und Jugend in der Mühle, an die Geschichte der Mühle in der Nähe einer Stadt inmitten eines Zuckerrübenanbaugebietes wiedergegeben.

Es war ein eigen Ding um die Mühle, von der hier die Rede ist… In den Wald hinein rauschte das Wasser nicht, das die Räder meiner Mühle in meinen Kindheits- und Jugendtagen trieb. In einer hellen, weiten, wenn auch noch grünen, so doch von Wald und Gebüsch schon ziemlich kahl gerupften Ebene war sie, neben dem Dorfe, ungefähr eine Stunde von der Stadt gelegen. Aus dem Süden kam der kleine Fluß her, dem sie ihr Dasein verdankte. Ein deutsches Mittelgebirge umzog dort den Horizont; aber das Flüßchen hatte seine Quelle bereits in der Ebene und kam nicht von den Bergen. Wiesen und Kornfeld bis in die weiteste Ferne, hier und da zwischen Obstbäumen ein Kirchturm, einzelne Dörfer überall verstreut, eine vielfach sich windende Landstraße mit Pappelbäumen eingefaßt, Feld- und Fahrwege nach allen Richtungen und dann und wann auch ein qualmender Fabrikschornstein – das war es, was man sah von meines Vaters Mühle aus, ohne daß man sich auf die Zehen zu stellen brauchte. Aber die Hauptsache in dem Bilde waren doch, und dieses besonders für mich, die Dunstwolke und die Türme im Nordosten von unserm Dörfchen.

 

Denn diese Mühle mit Mühlengarten und Gastwirtschaft, ein beliebter Ausflugsort in der Nähe einer Universitätsstadt Braunschweig, hat der modernen Industrie weichen müssen. Die Abwässer der Zuckerfabrik Krickerode verunreinigen und verpesten den Mühlenbach, sie vertreiben die Gäste und das Mühlenpersonal. Die Mühle wird verkauft, an ihrer Stelle entsteht eine Fabrik, und der Sohn des letzten Müllers, Oberlehrer in Berlin, verlebt kurz vor dem Abbruch der Mühle noch einmal seine Ferien auf dem väterlichen Besitz. Hier erzählt er, sich erinnernd, seien Jugend, seine Erziehung durch den Studenten Asche und die Vorgänge, die zum Untergang der Mühle geführt habe, wie das Mühlenwasser verpestet wurde, wie Asche die Ursache fand, wie Vater Pfister gegen die Zuckerfabrik prozessierte und gewann, aber die Mühle doch nicht rettete, und schließlich Vater Pfisters Tod.“ (H. Oppermann)

Es handelt sich bei dem beschriebenen Bach um die WABE in Niedersachsen. Sie entspringt im Elm (mit dem Mittelgebirge ist der Harz gemeint) und mündet bei Braunschweig in die Schunter (s.u.). Der Name, aus dem 13. Jahrhundert als Wevene bzw. Wavena überliefert, bezeichnet die „Wabernde, sich Bewegende“. Der Bach entsteht in einem Quellsumpfgebiet. Bei Eckerode betreibt der Bach noch heute eine Museumsmühle, die Obere Mühle. In Salzdahlum befand sich die erste der Zuckerfabriken. Die Wabe hat zahlreiche Zuflüsse und an ihrem Lauf gab es auch zahlreiche Wassermühlen. Raabe beschreibt die Folgen der Wasserverschmutzung durch die Rautheimer (Krickerode) Zuckerfabrik.

 

1924 hält der Direktor der Plöner Hydrobiologischen Anstalt August Thienemann (1882-1960) in Bremen hydrobiologische Vorlesungen, in denen er auch die Geschichte der noch jungen biologischen Abwasseranalyse behandelt. Nach einer Vorlesung wird er von einem Zuhörer darauf aufmerksam gemacht, dass schon der Dichter Raabe vierzig Jahre früher die biologische und chemische Wasseranalyse in eine seiner Erzählungen eingeführt habe. Thienemann geht diesem Hinweis nach und veröffentlicht 1925 seine Arbeit „Pfisters Mühle. Ein Kapitel aus der Geschichte der Biologischen Wasseranalyse“.

 

Von einer Tochter Raabes (Margarethe Raabe 1863-1947) erfährt Thienemann, dass Raabe sich bereits 1883 Akten des Prozesses der Müller aus Bienrode und Wenden gegen die Zuckerfabrik Rautheim von dem chemischen Sachverständigen Heinrich Beckurts (1855-1929, ab 1886 Prof. für Pharmazeutische und Angewandte Chemie in Braunschweig) hat geben lassen:

Die Zuckerfabrik Rautheim schickte ihre Abwässer durch die Wabe und die Mittelriede der Schunter zu, an welcher zwei Wassermühlen in Bienrode und Wenden liegen, welche durch Turbinen betrieben wurden. Die Kammern die Turbinen, besonders in der dem Mühlenbesitzer Müller in Bienrode gehörige Mühle, wuchsen durch Beggiatoen (nicht photosynthetisierende, gleitende Bakterien, nach dem ital. Botaniker Francescon Secondo Beggiato (1806-1883) benannt) und andere Wasserpilze völlig zu, so daß die Mühle zum Stillstand kam. Die gleichen Pilzwucherungen zeigten sich an den Ufern von Schunter und Wabe sowie an allen in das Wasser eintauchenden Gegenständen, Zweigen von Bäumen, Schilf und dergleichen.

Gleichzeitig trat in den Mühlen der Geruch von Schwefelwasserstoff auf. Diese Tatsachen gaben Anlaß zu der Klage und erregten damals berechtigtes Aufsehen, weil eine solche Verunreinigung, die auf den Betrieb einer Zuckerfabrik zurückgeführt werden mußte, in unserer Gegend noch nicht beobachtet war. Auch Wilhelm Raabe, mit dem ich damals im Klub der Kleiderseller gelegentlich verkehrte, interessierte sich für die Verunreinigung, ich mußte ihm davon erzählen und auch die Akten aushändigen…“

Beckurts berichtet dann über die Verunreinigungen von Mittelriede und Schunter durch die Zuckerfabrik Rautheim, wobei er sowohl Algen, Diatomeen, Schleimpilze und andere chlorophyllfrei Pflanzen als auch chemische Analysenergebnisse, so z. B. von Ammonium, Sulfid, Chlorid und Nitrit aufführt. Er berichtet weiterhin über die Verunreinigungen der Altenau durch Abwässer mehrerer Zuckerfabriken und der Lutter durch die Actienzuckerfabrik Königslutter sowie der Oker während der Zucker-Campagnien – vor dem Eintritt in die Stadt Braunschweig, hinter Hedwigsburg vor dem Einfluss in die Altenau und bei Wolfenbüttel.

(Aus G. Schwedt. Umweltschutz in Literatur und Geschichte. Ein Umweltprozeß vor 100 Jahren – beschrieben von Wilhelm Raabe, Umweltmagazin April/Mai 1989, S. 108/109 bzw. 78/79)

Über den Zustand des Baches berichtet Raabe u.a. wie folgt jedesmal, wenn der September ins Land kam – auf dem Neunten Blatt seines Sommerferienheftes:

Damit begann nämlich in jeglichem neuen Herbst seit einigen Jahren das Phänomen, daß die Fische in unserm Mühlwasser ihr Mißbehagen an der Veränderung ihrer Lebensbedingungen kundzugeben anfingen. Da sie aber nichts sagten, sondern nur einzeln oder in Haufen, die silberschuppigen Bäuche aufwärts gekehrt, auf der Oberfläche des Flüßchens stumm sich herabtreiben ließen, so waren die Menschen auch in dieser Beziehung auf ihre eigenen Bemerkungen angewiesen. Und ich vor allem auf die Bemerkungen meines armen seligen Vaters, wenn ich während des Blätterfalls am Sonnabendnachmittag zum Sonntagsaufenthalt in der Mühle aus der Stadt kam und den Alten trübselig-verdrossen, die weiße Müllerkappe auf den feinen grauen Löckchen hin- und herschiebed, an seinem Wehr stehend fand:

»Nun sieh dir das wieder an, Junge! Ist das nicht ein Anblick zum Erbarmen?«

Erfreulich war’s nicht anzusehen. Aus dem lebendigen klaren Fluß, der wie der Inbegriff alles Frischen und Reinlichen durch meine Kinder- und ersten Jugendjahre rauschte und murmelte, war ein träge schleichendes, schleimiges, weißbläuliches Etwas geworden, das wahrhaftig niemand mehr als Bild des Lebens und des Reinen dienen konnte. Schleimige Fäden um die von der Flut erreichbaren Stämme des Ufergebüsches und an zu dem Wasserspiegel herabreichenden Zweigen der Weiden. Das Schilf war vor allem übel anzusehen, und selbst die Enten, die doch in dieser Beziehung vieles vertragen können, schienen um diese Jahreszeit immer meine Vaters Gefühle in betreff ihres beiderseitigen Hauptlebenselementes zu teilen. Sie standen angeekelt um ihn herum, blickten melancholisch von ihm auf das Mühlwasser und schienen leise gackernd wie er zu seufzen:

»Und es wird von Woche zu Woche schlimmer, und von Jahr zu Jahr natürlich auch!«

 

Auf dem Dreizehnten Blatt. Vater Pfisters Elend unter dem Mikroskop“ beschreibt Raabe die Untersuchung durch den Chemiker Doktor Adam Asche, der sich mit folgenden Sätzen an den Müller Pfister wendet:

»Beggiota alba. Von einem von uns ganz speziell erst neulich zu Ihrer Beruhigung in den Ausflüssen der Zuckerfabriken entdeckt, alter Freund. Was wollen Sie? Pilze wollen auch leben, und das Lebende hat Recht oder nimmt es sich. Dieses Geschöpf ist nun mal mit seiner Existenz auf organische Substanzen in möglichst faulenden Flüssigkeiten angewiesen, und was hat es sich um Pfisters Mühle und Kruggerechtsame zu kümmern? Ihm ist recht wohl in Ihrem Mühlengerinne und Rädern, Meister, und das gebe ich Ihnen schriftlich, wenn Sie es wünschen…«

Adam Asche betätigt sich auch als Wasserbeschauer, worüber Raabe wir folgt berichtet (Vierzehntes Blatt. Krickerode):

Kurz, wir sahen meines Vaters Mühlwasser je höher hinauf, desto unsaubrer werden, wir sahen noch mehr als einen auf der Seite liegenden Fisch an uns vorbeitreiben, und wir füllten, die Nasen zuhaltend, Samses der Müllergeselle Flaschenkorb und versahen jede einzelne Flasche mit einer genauen Bezeichnung der Stelle, wo wir die geschändete Najade um eine Probe angegangen waren.

Zweieinhalb Kilometer (…weiter) gelangten wir dann nach der Welt Lauf und Entwicklung wie zu etwas ganz Selbstverständlichem zu dem Ursprung des Verderbens von Pfisters Mühle, zu der Quelle von Vater Pfisters Leiden; und Doktor Adam Asche sprach zum ersten Male an jenem Morgen freundlich ein Wort. Auf die Mündung eines winzigen Nebenbaches und über eine von einer entsetzlichen, widerwärtig gefärbten, klebrig stagnierenden Flüssigkeit überschwemmte Wiesenfläche mit der Hand deutend, sagte er mit unbeschreiblichem, gewissermaßen herzlichem Genügen: »Ici!«

Jenseits der Wiese erhob sich hoch aufgetürmt, zinnengekrönt, gigantisch beschornsteint – Krickerode! Da erhob sie sich, Krickerode, die große industrielle Errungenschaft der Neuzeit, im wehenden Nebel, grau in grau, schwarze Rauchwolken, weiße Dämpfe auskeuchend, in voller »Kampagne«, auch am zweiten Weihnachtstage, Krickerode!

 

Das von der III. Civilkammer beim herzoglichen Landgericht zu Braunschweig am 14.3.1883 ausgesprochene Urteil lässt sich im Ergebnis (mit Bezug auf die Personen in Raabes „Schlüsselroman“) wie folgt darstellen:

Der alte Pfister lässt durch den Rechtsanwalt Riechein (Semler) die Zuckerfabrik Krickerode (Aktienzuckerfabrik Rautheim) flussabwärts an der Mühle an einem Nebenfluss der Innerste (Wabe) gelegen, verklagen, und der Dr. Asche (Privatdozent Beckurts) wird von ihm beauftragt, ein Sachverständigengutachten zu erstatten. Dr. Asche zieht seinerseits den Kollegen Kühl (Prof. Ferdinand Cohn in Breslau) als Autorität hinzu, und dank dessen Gutachten wird der Prozess gewonnen. 1959, als der Medizinalrat Dr. Luwig Popp, Lehrbeauftragter der TH Braunschweig in der Fachzeitschrift Stadthygiene über den Prozess zum Roman berichtete, existierte die Zuckerfabrik Rautheim bereits nicht mehr; sie war kurz vor dem Zweiten Weltkrieg stillgelegt worden.

Die Schuntermühle in Bienrode (heute Ortsteil von Braunschweig) soll das Vorbild für Raabes Pfisters Mühle gewesen sein. Die Wassermühle wurde 1331 in einer Schenkung des Ortes Bienrode durch die Brüder von Wenden an das Kloster Riddagshausen erwähnt. Sie wurde bis 1968 betrieben. Die eingangs genannten Mühlen des Prozesses – die Bienroder Mühle und die Wendenmühle – liegen an der Schunter, in welche die Wabe in Braunschweig von links mündet. Die Schunter entspringt ebenfalls am Höhenzug Elm und mündet in die Oker nordwestlich von Braunschweig. Schon 781 wurde der kleine Fluss als Schuntra (vermutlich von alt-slawisch sukatora = mit vielen Winkel, windungsreich oder auch altnordisch scunda = eilen, rasch fließen) genannt. Auch an der Schunter gab es zahlreiche Mühlen und im 18. Jahrhundert war sie sogar schiffbar.

Auf dem Zweiundzwanzigsten Blatt, auf dem von Vater Pfisters letzten Tagen berichtet wird, ist zu lesen:

Krickerode war rechtskräftig verurteilt worden. Das Erkenntnis untersagt der großen Provinzfabrik bei hundert Mark Strafe für jeden Kalendertag, das Mühlwasser von Pfisters Mühle durch ihre Abwässer zu verunreinigen und dadurch einen das Maß des Erträglichen übersteigenden übeln Geruch in der Turbinenstube und den sonstigen Hausräumen zu erzeugen, sowie das Mühlenwerk mit einer den Betrieb hindernden, schleimigen, schlingpflanzenartigen Masse in gewissen Monaten des Jahres zu überziehen. Das ist sehr gut für andere Flußbewohner, ob sie eine Mühle haben oder nicht; aber Vater Pfister macht wenig Gebrauch mehr von dem durch Doktor Riechei für ihn erfochtenen Sieg. Das hätte früher kommen müssen – an jenem Tage schon, an welchem er sich zum erstenmal fragte, wo eigentlich sein klarer Bach – die lustige, rauschende, fröhliche Nahrungsquelle seiner Väter seit Jahrhunderten – geblieben sei und wer ihm so die Fische töte und Gäste verjage…